Kurzgeschichte: Roter Jasmin


Bild von Franzi.

Frohe Pfingsten wünsche ich Euch :). Ich hoffe, Ihr genießt den freien Tag an der Sonne, zusammen mit Freunden oder Eurer Familie. Zur Feier des Tages teile ich heute zum ersten Mal eine meiner Kurzgeschichte mit Euch. Sie ist Ende letzten Jahres in einem Schreibkurs entstanden. Es geht um das Alter, um Einsamkeit und Kauzigkeit, genauso wie um die Familie.

Viel Vergnügen beim Lesen und habt eine wunderbare (kurze) Woche!

Das Telefon klingelt seit einer Minute. Rosalie versucht vergeblich, es zu ignorieren. Jeden Freitag um 16 Uhr läuft Roter Jasmin, Rosalies Pflichtprogramm. Wer sie kennt, weiß das und respektiert, dass sie in dieser Zeit nicht gestört werden will.

Rosalie flucht leise vor sich hin, erhebt sich schwerfällig vom Sofa und geht - ohne ihren Blick vom Fernseher abzuwenden - in Richtung des durchdringenden Geräusches. Am Apparat angekommen, nimmt sie kurz den Hörer ab und lässt ihn, den Blick noch immer fest auf den Fernseher gerichtet, sofort wieder auf die Gabel fallen.

Als sie endlich wieder auf ihr Sofa zurückgekehrt ist, atmet sie erleichtert durch, nimmt ein Schlückchen Tee und versinkt genüsslich in das Drama ihrer Lieblingsserie: Affären, Reitunfälle und ein Gutsherr, dessen Existenz vom ausschweifenden Lebensstil seiner Ehefrau bedroht ist. Ach, das ist genau das, was Rosalies Herz jetzt braucht.

Eine Woche später sitzt Rosalie wieder in ihrer bevorzugten Sofaecke, die Kissen gemütlich in den Rücken gestopft, vor sich eine Tasse Tee, im Fernseher Roter Jasmin.

Rrring, rrring. Das darf doch nicht wahr sein! Die ganze Woche schweigt dieses verdammte Ding, aber ausgerechnet jetzt bimmelt es. Rosalie schleppt sich zum klingelnden Telefon und drückt auf die Gabel.

Im Fernseher stehen ihre beiden Lieblingscharaktere gerade kurz vor ihrem ersten Kuss. Rosalie hält die Luft an, den Telefonhörer noch immer in ihrer Hand. Alles könnte sich verändern. Was wird aus den beiden und ihren Familien, wenn sie sich jetzt ihre Liebe eingestehen? Abspann. Fortsetzung folgt nächste Woche.

Rosalie knallt den Hörer zurück auf die Gabel. Wer ruft sie nur ständig zu dieser Unzeit an? Eine Frechheit ist das, einer alten Damen nicht einmal das kleine Vergnügen zu gönnen, in Ruhe ihre Serie sehen zu dürfen.

Rrring, rrring. Rrring, rrring. Das Traumpaar im Fernsehen hat gerade den eigentlich schon unvermeidbaren Kuss doch noch abwenden können - in dieser Sekunde erwacht das Telefon wieder zum Leben.

Rosalie verschüttet vor Schreck etwas Tee, der sich nun genüsslich durch das Spitzendeckchen zieht. Sie schnellt aus ihren Kissen hoch und stampft zum klingelnden Monsterapparat. Kurz überlegt sie, ob sie abnehmen soll. Nein, der Anrufer muss lernen, dass es so nicht geht. Rosalie drückt schnell die Gabel hinunter und legt den Hörer neben das Telefon.

In der Woche darauf hat Rosalie vorgesorgt: Der Hörer liegt neben dem Apparat, die Tischdecke ist gewaschen und der Tee dampft in der Porzellantasse. Diesmal wird sie niemand stören. Sie wird in Ruhe ihre Serie ansehen können.

Klingklang, klingklang. Die Haustürklingel läutet.

Rosalie drückt sich in ihre Sofaecke und schaltet auf Durchzug, die Augen fest auf das Geschehen von Roter Jasmin gerichtet.

Klingklang, klingklang. Zwanzig Minuten hält Rosalie durch. Der Besuch an der Haustür ebenfalls. Vor Wut schnaufend macht sich Rosalie auf den Weg zur Tür.

Sie öffnet und sieht vor sich ihre Enkelin Sonja stehen. „Was macht die denn hier?“, denkt Rosalie. „Sie meldet sich doch sonst nie...“

„Mensch Oma, endlich! Wolltest Du die Tür nicht öffnen oder hast Du die Klingel wirklich nicht gehört? Meine Anrufe nimmst Du auch nie entgegen.“

Rosalie hat keine Lust auf lange Erklärungen: „Komm schnell rein. Es läuft gerade Roter Jasmin.“ Mit einer grummeligen Kopfbewegung deutet sie in Richtung Wohnzimmer und stapft voraus, zurück in ihre Sofaecke.

Sonja setzt sich neben sie. Ihr Blick fällt auf den Telefonhörer, der neben dem Apparat liegt. Schweigend verbringen beide die nächste halbe Stunde.

Im Fernseher genießt die dekadent lebende Ehefrau des Gutsbesitzers ein Schäferstündchen mit dem Stallburschen ihres Gestüts.

Beim Abspann lächelt Rosalie zu Sonja hinüber: „Kennst Du die Serie?“

Sonja schüttelt den Kopf: „Ich hab sie heute zum ersten Mal gesehen. Gar nicht schlecht. Wie gehörte jetzt der Stallbursche zu dem adligen Nachbarn? Ist das wirklich der uneheliche Sohn?“

Rosalies Blick wird sanft: „Das ist eine lange Geschichte. Willst Du ein Stück Kuchen? Ich hole ihn schnell aus der Küche und erzähle es Dir.“

Eine Woche später stehen zwei Tassen Tee auf der Spitzentischdecke. Sonja ist diesmal von Anfang an dabei.

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